Ludwig Erhart und das Wirtschaftswunder
Ludwig Wilhelm Erhard (* 4. Februar 1897 in Fürth; † 5. Mai 1977 in Bonn) war ein deutscher Politiker (CDU) und Wirtschaftswissenschaftler. Er war von 1963 bis 1966 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Zuvor war er 1945 bis 1946 Wirtschaftsminister in Bayern, 1948 bis 1949 Direktor für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets und von 1949 bis 1963 Bundesminister für Wirtschaft. Er wird häufig als Vater des „deutschen Wirtschaftswunders“ angesehen; sein tatsächlicher Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung ist allerdings umstritten. Auch wird er oft als Vater des als Soziale Marktwirtschaft bezeichneten Wirtschaftssystems der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet, das von ihm als Wirtschaftsminister eingeführt wurde. Von 1957 bis 1963 war er Vizekanzler und von 1963 bis 1966 der zweite Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. 1966 bis 1967 war er Adenauers Nachfolger als CDU-Bundesvorsitzender.
Anfangs stieß Erhards Wirtschaftspolitik auf Skepsis und teilweise heftige Kritik. Marion Gräfin Dönhoff kommentierte im Sommer 1948: „Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem vollkommen absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in Deutschland aufzuheben, würde das ganz gewiss fertigbringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtschaftsminister wird. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe.“
Später wurde Erhard einer der beliebtesten Politiker, er galt für viele als Schöpfer des „deutschen Wirtschaftswunders“. Hingegen meint der Historiker Werner Abelshauser, das sogenannte Wirtschaftswunder sei „nicht vom Himmel gefallen“, Deutschland sei schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Weg in eine nachindustrielle Gesellschaft gewesen. Erhards Verdienst sei es gewesen, sich Deutschlands hoch entwickelter Ökonomie in den Fünfzigerjahren bedient und diese weltweit erfolgreich gemacht zu haben. Nach Albrecht Ritschl bestehe die große Leistung von Erhard „weniger darin, Reformen gestaltet zu haben – sondern darin, falsche Entscheidungen verhindert zu haben.“
Seine Zeit als Bundeskanzler wird jedoch oft als „glücklos“ gesehen. Das von ihm aufgestellte Leitbild einer „formierten Gesellschaft“, das er im März 1965 auf dem 13. Parteitag der CDU der Partei präsentierte, fand kaum Zustimmung. Sein politisches Scheitern als Kanzler wurde nicht zuletzt darauf zurückgeführt, dass ihm als „Quereinsteiger“ in die Politik Durchsetzungsfähigkeit fehlte und dass sein kollegialer Stil als Führungsschwäche ausgelegt wurde. Das Unbehagen mit seiner Amtsführung wird in einer Reportage aus seinem ersten Amtsjahr im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ausgedrückt:
„Der Bundeskanzler gehört zu jenen nur scheinbar dickhäutigen und dickfelligen Pykniker-Typen, die Anerkennung brauchen […] Schon die kühle Brise, die Erhard ab und zu ins Gesicht bläst, seit er die Kommandobrücke im Palais Schaumburg betreten hat, reicht aus, um sein seelisches Gleichgewicht zu stören.“
Auch Erhards Berater Johannes Gross wies auf dessen Schüchternheit und Zögerlichkeit im kleinen Kreis hin; sie stand in einem Kontrast zu dem öffentlich zur Schau gestellten Optimismus in seinen mitreißenden Reden.
Ein oppositionelles politisches Engagement von Intellektuellen empfand Erhard offenbar als Zumutung, das er in problematischer Art und Weise zurückwies: Indem er das literarische Werk des SPD-Wahlkämpfers Günter Grass als „unappetitliche Entartungserscheinungen“ abkanzelte, in ähnlicher Weise Rolf Hochhuth, der das „Wirtschaftswunder“ kritisch beleuchtet hatte, als „Pinscher“.
Wie Adenauer glaubten auch viele andere, er sei als Kanzler ungeeignet. In der neueren historischen Forschung wird insbesondere darauf hingewiesen, dass Adenauer seinen Wirtschaftsminister menschlich ablehnte:
„Adenauers Abneigung gegen Erhard war abgrundtief und absolut. Der betagte Kanzler war sich nicht zu schade, Erhard öffentlich oder hinter dessen Rücken in Parteikreisen anzugreifen. […] Er hasste Erhards lange Monologe zu Wirtschaftsthemen. Er mochte Erhards lässige Kleidung nicht und missbilligte den Zigarrenrauch, mit dem sich Erhard gern einnebelte, ebenso wie die Zigarrenasche, die sich auf seinem Revers ansammelte. Erhards Alkoholkonsum betrachtete er als moralischen Affront. Und schließlich war ihm Erhards Hang zum Selbstmitleid unerträglich.“
Auch Personen aus anderen politischen Lagern berufen sich gelegentlich auf Erhard. So z. B. Sahra Wagenknecht von den Linken, die an seine Zielvorstellung eines „Wohlstands für alle“ und an seinen Kampf gegen Kartelle erinnert; nur habe er das nicht konsequent zu Ende geführt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen